Alter Grenzweg an der Elbe (© Dennis Barton)
Alter Grenzweg an der Elbe (© Dennis Barton)

Die Tage verliefen nicht schlecht für Daniel. Wie er doch dieses warme, beinahe zu heiße Wetter mochte. Es war jetzt Anfang Juni, das Thermometer zeigte aber schon seit über einer Woche mehr als 30 Grad und die Erfahrung von Regen war für ihn nur noch in seiner Erinnerung präsent. Wie oft hatte er sich in der Vergangenheit gesagt, dass er die Hitze nicht mochte, dass er das Schwitzen nicht mag, dass er, sobald er die Chance dazu hat, die Sommer im eher nördlichen Teil von Europa verbringen will. Doch das waren auch andere Zeiten. Mit einem Übergewicht von mindestens 30 Kilo ist auch beinahe jedes Wetter zu heiß. Doch diese Zeiten waren ja vorbei.

Jetzt saß er im Park, dem stillsten Ort im Zentrum seiner aktuellen Wahlheimat, laß sein Buch, trank sein Wasser und aß sein Brot, seinen Käse und seine Birne. Wo war das schwere Leben hin? Wo die Sorge, dass man es den Menschen nicht recht machen kann, wo die Angst, dass man zu sehr man selbst sein kann und dadurch die Menschen in seiner Umwelt verletzt? Waren diese Sorgen, diese Ängste oder waren sogar diese Menschen weg?

Er sah sich um. Die Bänke um ihn herum waren leer. War in diese Welt überhaupt jemand, den er verletzen könnte, dem er Leid antun könnte, nur dadurch, dass er da ist? Er sah sich weiter um, es waren zwar keine Menschen um ihn herum, doch er sah, wie viele andere Dinge da sind. Vor ihm war ein Weg, auf dem er gegangen war, um diese Bank zu erreichen. Was war dieser Weg? Was ist ein Weg überhaupt?

Auf einmal war ihm, dass diese Frage mehr ist, als alles, was er sich jemals überlegt hatte. Warum ist ein Weg ein Weg? Er erschrak, als ihm bewusst wurde, wie viele Möglichkeiten es an Antworten zu dieser Frage gibt. Oder, noch mehr, wie viele Möglichkeiten es für diese Frage gibt. Ein Weg kann doch die physikalische Existenz einer Ansammlung von Orten bedeuten, die Menschen, Tiere oder auch Dinge im Allgemeinen innerhalb einer bestimmten Zeit zurücklegen. Ist nicht die Strecke ein Weg, die die Mutter vom Herd zum Tisch zurücklegt, um die Suppe zu servieren? Ein Weg ist doch auch das, auf dem sich jemand bewegt, der von Berlin nach Hamburg fährt, auf dem der Hirsch von der Futterstelle zurückgeht, um zu seinem Ruheplatz zu kommen, auf dem der Stein hoch von den Bergen, entlang der tausend Kilometer des Rheins zu einem Kiesel am Rotterdamer Hafen wird.

Daniel sah vor sich hin. Es war doch auch ein Weg, den die Birne nahm, aus seiner Tasche in seine Hand und in seinen Mund. Und doch ist in allen diesen Fällen der Weg mehr als nur die Ansammlung von Raumpunkten. Für diese Definition ist es doch egal, wer oder was diesen Weg nimmt. Dieser Weg lässt sich rein mathematisch bestimmen. Man nehme ein dreidimensionales Koordinatensystem, das alle möglichen Raumpunkte beschreiben kann und zeichnet eine Kurve vom Anfang des Weges bis zu seinem Ende. Voilà, ein Weg. Definiert durch eine Strecke zwischen den Punkten A und B. Nimmt man jetzt die Restriktionen, die uns die moderne Physik bezüglich der möglichen Geschwindigkeit eines Dings -Mensch, Hirsch oder Stein- gibt, können wir auch sagen, in welcher Zeit Punkt B ausgehend von Punkt A erreicht wird. Das heißt, wir können diesen physikalischen Weg in Abhängigkeit des ''Gehers'' noch weiter definieren.

Aufschauend aus seiner Versunkenheit in mathematischen Definitionen und Konzepte sieht Daniel einen Stein. Wie ist dieser Stein an seine Stelle gekommen? Alles, was er im Moment sagen kann, ist, dass dieser Stein zu irgendeinem früheren Zeitpunkt an Punkt A war und dass er in einer bestimmten Zeit an diesem Punkt B, das heißt an dieser Stelle, an der David ihn in diesem Moment sieht, angekommen ist.

Sagen wir Punkt A war auf irgendeinem Hügel in der Nähe. Regen, Wind, die Natur im Allgemeinen hat in irgendeiner Form den Stein bewegt, so dass er an diesem Punkt B, zu diesem Zeitpunkt, an dem ihm Daniel sieht, zum Liegen gekommen ist. Betrachten wir erneut das Koordinatensystem, in dem sich der Stein bewegt hat, so erkennen wir, dass dieser Weg, den der Stein genommen hat, nicht der einzige mögliche Weg war. Wir sehen Hügel, kleine Bodenfalten und so weiter, sodass es absolut möglich ist, dass der Stein um an Punkt B anzukommen, einen anderen Weg hätte nehmen können.

Wenn Daniel darüber nachdenkt, wird es ihm aber auch klar, dass die Umstände, dass heißt die Menge an Regen, wie stark der Wind war, wie schnell die Sonne den Boden getrocknet hat, also alle Natureinflüsse, dafür verantwortlich waren, dass der Stein auf diesem Weg an Punkt B angekommen ist. Gleichzeitig wird aber auch klar, dass es eine hohe Wahrscheinlichkeit gegeben hat, dass der Stein nicht genau an diesem Punkt B angehalten hat, sondern auch einige Zentimeter oder auch Kilometer weiter entfernt. Daniel betrachtet einen anderen Stein. Ihm fällt auf, dass es für seine Überlegung absolut egal ist, wo ein Stein, dessen Weg er beschreiben will, zum Liegen kommt. Die Art des Weges ist immer die gleiche. Natürlich hätte auch ein Kind den Stein auf dem Weg von A nach B in die Tasche stecken können und ihn genau an dieser Stelle verlieren können. Das alles macht keinen Unterschied für den Weg des Steins.

Daniel beißt erneut in seine Birne. Wie sehr er doch in der letzte Zeit die Kombination von Käse und Birne zu schätzen gelernt hatte. Wie einfach ein gutes Essen sein kann! Etwas Baguette, ein gutes Stück Käse -vielleicht ein Stilton- eine gute, nicht zu reife Birne. Ein kulinarischer Genuss.

Daniel fällt auf, dass er dabei ist sich in anderen Gedanken zu verlieren. Er wollte doch die Geheimnisse des ''Weges'' zerkunden und jetzt dachte er über das Essen nach. Wie unphilosophisch! Oder?! Eine Frage kann doch auch sein, auf welchem Weg man sich ernährt. Doch Daniel ist bewusst, dass er damit eine andere Richtung seiner Überlegungen einschlägt, ohne dass er die vorherigen Überlegungen abgeschlossen hätte. Und doch haben diese Gedanken sehr viel damit zu tun, wie und warum der Weg des Steins so oder so ist. Es ist doch prinzipiell nicht zu unterscheiden, ob der Stein durch Wind und Wetter von A nach B gekommen ist, oder ob die Birne, der Käse oder das Baguette vom Laden, in dem Daniel es gekauft hat, zu dieser Bank in diesem Park, in dem sich Daniel mit dem Brot, dem Käse und der Birne gerade befindet, gekommen ist.

Ob Stein, Brot, Käse oder Schrank, Tür, Haus oder Berg, für alle diese Dinge gilt, sie werden zu dieser Stelle ''gebracht'', an der sie sind. Es war keine Entscheidung ihrerseits in dem Weg, auf dem sie dahin gekommen sind, wo sie sind, enthalten. Der Grund dafür, dass sie sich auf dieser Strecke bewegt haben, war immer extern. Genauer gesagt, sie ''haben'' sich nicht bewegt, sie ''wurden'' bewegt! Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass ihr ''Sein'', die Art ihrer physischen Existenz, auf den Weg einen Einfluss gehabt hat. Für den Stein spielte seine Form, die Anzahl seiner Kanten, seine Größe und so weiter eine Rolle wie weit er von der Flut getragen wurde oder wie oft und an welchen anderen Steinen er hängen blieb. Für die Tür, um vom Türgeschäft in das Haus gebracht zu werden, spielte das Aussehen und ihre Beschaffenheit eine Rolle. Doch in beiden Fällen hatten weder der Stein noch die Tür einen Einfluss auf ihre Eigenschaften. Auch hier -und das sollte an einer anderen Stelle betrachtet werden- war es ein Weg, auf dem der Stein und auch die Tür zu dem wurden was sie sind, um den vorher beschriebenen Weg ''gegangen'' zu werden. Sie selber hatten keinerlei Einfluss darauf!

Daniel denkt darüber nach, was er bei Plato und anderen über die belebte und unbelebte Welt gelesen hatte. Es ist doch so: Alle Dinge bewegen sich nicht selbst, alle Dinge werden bewegt. Ein Ding ist ein Ding, weil es nur durch andere auf einen Weg gebracht werden kann. Ein Ding geht seinen Weg nicht aus eigenem Antrieb, es ''wird gegangen''. Es hat keinen eigenen Antrieb!

Was ist dann dieser Weg, auf dem der Stein bewegt wurde? Es stellt sich doch so dar, dass die Strecke selber, also die Punkte, an dem der Stein auf dieser Strecke war, durch nichts anderes miteinander verbunden sind, als dass sie nacheinander der Ort waren, an dem der Stein sich irgendwann befand. Ohne den Stein, oder allgemeiner, ohne ein Ding, das sich entlang einer Strecke bewegt, sind die Punkte, die diese Strecke ausmachen, vollständig unabhängig voneinander. Sie mögen sich ähnlich sein, dass heißt viele gleiche Eigenschaften besitzen, wie zum Beispiel zwei Punkte auf einer asphaltierten Straße, die nur wenige Zentimeter voneinander entfernt sind. Doch im Hinblick auf den Weg, den der Stein ''nicht'' entlang dieser Punkte gegangen wird, unterscheiden sie sich nicht im geringsten von einem Punkt auf der Oberfläche eines Ozeans, der sich ohne Zweifel in vielerlei Hinsicht von einem Punkt auf einer Landstraße unterscheidet. Hinzu kommt, dass die Frage nach ''einem'' Punkt auf der Oberfläche eines Ozeans selbst schon an und für sich eine Frage mit einer sehr langen und möglicherweise nicht zufriedenstellenden Antwort wäre!

Was sind diese Punkte nun, in Anbetracht eines Weges, wenn sie nicht Teil eines Weges sind? Nun, solange der Weg noch nicht gegangen wurde, dass heißt solange die Punkte noch nicht vom Gegenstand, der sich auf dem Weg befinden wird, berührt wurden, solange sind alle möglichen Punkte nur Möglichkeiten Teil dieses Weges zu werden. Wobei jede dieser Möglichkeiten eine größere oder kleinere Wahrscheinlichkeit hat, ein Teil des Weges zu werden.

Nehmen wir die Straße und gehen davon aus, dass ein Stein in irgendeiner Weise von einem Punkt A zu einem Punkt B bewegt wird. Wir können vielleicht sogar annehmen, dass beide Punkte einen Abstand von fünf Zentimetern entlang der Oberfläche der Straße haben. Solange der Stein noch an Punkt A ruht, hat jeder Punkt im Universum -und vielleicht auch darüber hinaus- prinzipiell die gleiche Wahrscheinlichkeit ein Teil des Weges, auf dem der Stein von A nach B bewegt wird, zu werden. Dabei lassen wir wahrlich alle uns bekannten physikalischen Gesetze außen vor, zumindest solange wir jedem Punkt die gleiche Wahrscheinlichkeit geben. Für die meisten Menschen wird, und das ist ja auch das, was uns unsere Erfahrung zeigt, die Verteilung der Wahrscheinlichkeiten alles andere als homogen sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass Punkte außerhalb unseres Universums, oder dem, was wir uns darunter vorstellen, ein Teil des Weges sein werden, wird im Allgemein wohl gegen null gehen. Überhaupt wird für die meisten Menschen die Möglichkeit, dass solche Punkte existieren, schon gar nicht gegeben sein. Doch selbst wenn wir die Existenz dieser Punkte nicht kategorisch ausschließen, lässt sich mit einiger Sicherheit sagen, dass sich der Stein auf seinem Weg von A nach B (auf der Straße) zu keinem Zeitpunkt an einem Punkt außerhalb dieses Universums befinden wird. Jedoch, können wir es wirklich wissen?

Daniel schreckt auf. Über seinem ganzen Denken über Punkte eines Weges, der Frage ob es einen Punkt auf der Oberfläche eines Meeres gibt, hat er nicht mitbekommen, wie sich neben ihm eine Taube an den Krümeln seines Brotes zu schaffen macht. Sie pickt immer etwas in den Krümeln herum, schaut auf und hält inne, geht etwas herum und pickt weiter. Daniel sieht die Steine auf dem Weg und er sieht wie die Steine immer wieder von der Taube angestoßen und bewegt werden. Und jedes Mal, so denkt sich Daniel, beschreiben die Steine einen Weg, den sie vielleicht gar nicht gehen wollten. Aber was weiß er schon darüber, wie Steine denken.

Doch fällt dabei auf, dass bei all diesen Betrachtungen immer von der Strecke von einem Startpunkt zu einem Endpunkt ausgegangen wird. Sind diese Punkte nicht einfach willkürlich gewählt? Doch in welcher Weise sind sie willkürlich? Nicht ihr Ort ist willkürlich. Um zu sagen ''dort ist der Startpunkt'', muss zumindest davon ausgegangen werden, dass sich das Ding, welches man betrachten will, zu einem ''Zeitpunkt'' an diesem Ort befinden wird, also einen Weg beschritten hat, auf dem es zu diesem Ort geführt wurde. Das gleiche gilt für den Endpunkt. Damit der Weg zwischen A und B untersucht werden kann, muss das Ding an diesen beiden Punkten zu einem Zeitpunkt, für den Startpunkt früher, für den Endpunkt später, ''sein''. Die Frage, was vorher war oder was später sein wird, ist dabei zunächst vollständig von der Betrachtung ausgeschlossen.

Für den Weg des Dings zwischen A und B spielen diese beiden Zustände, also, was oder wo das Ding vorher oder nachher war, im ersten Moment keine Rolle, solange davon ausgegangen wird, dass die Zeit, bevor das Ding sich an Punkt A befunden hat, keinen Einfluss darauf hat, wie sich das Ding zwischen A und B verhält. Der Zustand am Ort A zu sein hat also, so gesehen, keine Vergangenheit. Er muss so sein, als wenn alles, was einen Einfluss auf das Ding in Punkt A haben könnte, erst zu dem Zeitpunkt zu existieren beginnt, wenn die Frage nach dem Weg, beginnend von Punkt A gestellt wird. Da das Ding einen Weg zurück gelegt haben müsste um nach A zu kommen, wird für diese Betrachtungsweise angenommen, dass nichts Existierendes zuvor bestanden hat, dass heißt, dass die Welt, das Universum und alles darüber hinaus erst zu diesem Zeitpunkt zu existieren beginnt.

Daniel erschreckt sich erneut. Hat er, jedes mal, wenn er einen Prozess eines Zustands, wie auch immer geartet, zu einem anderen betrachtet hat, die Näherung angewandt, dass vorher ''nichts'' war? Das scheint ihm eine sehr harte Näherung zu sein. Er denkt an sich, wie er heute die Wahl getroffen hat, auf diese Bank zu gehen. Kann er den Zeitpunkt, an dem er sich hingesetzt hat, davon isolieren, was ihn dazu gebracht hat, sich hier hin zu setzen? Besser, kann er das, was er seitdem gemacht hat, davon isolieren? Das kann er sicherlich nicht, zumindest fällt ihm nicht sein, wie er erklären könnte, dass er hier auf dieser Bank sitzt und gerade eine Birne gegessen hat, ohne zu betrachten, dass er zuvor irgendwie zu dieser Birne gekommen ist.

Aber ist das nicht nur dann ein Problem, wenn man nach dem ''Warum'' fragt, dass heißt ''Warum sitzt Daniel auf der Bank und isst seine Birne?'' Wenn davon ausgegangen wird, dass die Welt erst entstanden ist, als sich Daniel auf die Bank gesetzt hat, muss man Daniel einige Anfangsbedingungen mitgeben. Das heißt Informationen, die zu diesem Zeitpunkt in dieser gerade neu entstandenen Welt erklären, warum Daniel auf der Bank sitzt und eine Birne isst. Versetzen wir uns nun in den Beobachter, der Daniel sieht und zum gleichen Zeitpunkt entsteht wie die Welt, das heißt, sich Daniel auf die Bank setzt.

Kann er überhaupt die Frage nach dem ''Warum'' stellen, ohne dass er irgendein Vorwissen über Daniel bezüglich des Weges, den Daniel bis zu diesem Zeitpunkt genommen hat, hat? Er muss zumindest davon ausgehen, dass es diese Anfangsbedingungen überhaupt gibt, denn sonst wäre die Frage nach dem ''Warum'' sinnlos. Besser gesagt, es muss für ihn eine Möglichkeit für Anfangsbedingungen, das heißt Vergangenheit geben.

Daniel sieht auf den Stein. Und er sagt sich, dass eine Existenz ohne Vorgeschichte doch gar nicht möglich sein könnte. Wie könnte er auf einmal sein, ohne sich die Frage an sich selbst zu stellen, wo er her kommt. Selbst wenn er auf einmal einfach ''da'' wäre, hätte er im nächsten Moment eine Vergangenheit. Sagen wir, das Entstehen ist Punkt A, somit hat er an der Stelle Punkt A+x schon die Vergangenheit x. Wenn er eine Erinnerung an den Weg von A nach A+x hat und die Frage nach dem ''Warum'' von x stellt, warum sollte er dann nicht auch die Frage stellen, was vor A war? Und sobald er diese Frage stellt, gibt es die Möglichkeit, dass etwas vor A war. Damit sagt er sich, dass immer, wenn er etwas beginnend von einem Zeit- oder Raumpunkt A betrachtet hat, er diesen Punkt A gewählt hat. Er kann immer nach einem vorherigen Punkt A-x fragen. Selbst, wenn das Ding, welches er an Punkt A betrachten will, noch nicht existent war, kann er immer nach den Gründen fragen, die zum Entstehen von A geführt haben.

Wie war er bloß dorthin gekommen? Daniel sieht sich wieder um. Die Tauben sind weg. Der Schatten der Brücke, unter der er saß, ist bald dabei ihn zu verlassen und ihn dem hellen Licht der heißen Sommersonne preis zu geben. Wo ist er angekommen? An einem Anfang, der nicht existiert. Jeder Anfang hat eine Vergangenheit. Jeder Punkt, der durchlaufen wird, ist wieder ein Anfang. Ist jeder Punkt auch ein Ende?

Daniel denkt wieder an seinen Stein auf der Strecke von A nach B. Was ist dieses B? B kann doch auch wieder zu einem Anfang werden, aber im Moment ist es das Ende einer Strecke. Lässt man die Frage nach dem ''Warum'' außer Acht, so kann man doch den Stein auf diesem Weg, beziehungsweise den Weg selbst untersuchen. Doch genau kann man das nur, solange der Stein sich schon am Ort B befindet.

Und doch kann man annehmen und die Frage danach stellen, wie der Weg aussieht, wenn B in der Zukunft läge. Und genau wie für Punkt A, der immer in der Vergangenheit liegt und vor der Existenz des Steins existiert, ließe sich ein B erdenken, welches in der unendlichen Zukunft liegt. Das heißt, selbst wenn davon ausgegangen wird, dass der Stein aufhört zu existieren, seine Vergangenheit nicht aufhört zu existieren.

Hört ein Stein eigentlich auf zu existieren? Irgendwann war der Stein doch Teil eines Berges. Durch irgendeinen äußeren Einfluss wurde ein Teil des Berges abgespalten und der Stein entstand. In der Schneeschmelze wurde der Stein, der hier noch Fels ist, bergab bewegt, entlang eines kleinen Bergbachs. Von da an, als er schon kleiner war, kam er in den Rhein. Irgendwann später in den Bodensee. Und er schaffte es durch den Bodensee hindurch nach Konstanz, durch den Rheinfall, durch den Oberrhein. Er sah den Mittelrhein mit all seinen Burgen und seinem Wein. Vorbei an Köln und so weiter, bis er sich auf einmal, nach dem er Rotterdam passiert hat, in der Nordsee befand. Und selbst dann ist sein Weg nicht zu Ende. Auf seinem Weg wurde er immer kleiner, immer runder. Zum Schluss ist er nicht mehr als ein Sandkorn am Strand von Bikini. Und selbst wenn er schlussendlich nicht mehr ist als ein paar Millionen Atome, selbst wenn nur ein einzelnes Atom übrig bleibt, selbst dann existiert er weiter. Selbst bevor der Berg entstand, aus dem der Stein einst geboren werden wird, bevor die Erde, das Universum und alles entstand, war der Stein schon da als Möglichkeit zu diesem Stein zu werden. Und selbst wenn diese Welt einst in ihrer Form der Existenz endet und keine Welt mehr ''sein'' wird, das Universum nicht mehr ''ist'' und alles andere nicht mehr ''war'', so war es doch gewesen und der Stein kann nicht mehr ''nicht'' gewesen sein.

Daniel überlegt sich, dass diese Analogie doch auch für alles andere, ihn selbst eingeschlossen, gelten kann. Er weiß zwar nicht, was sein ''Sein'' ist -oder was das ''Sein'' überhaupt ist- aber er weiß, dass er ''ist'' was er ''ist'' und damit, dass er zumindest irgendwie ''ist''. Vorher war er eine Möglichkeit, später wird er Vergangenheit, aber jetzt und hier ist er. Das Brot, der Käse, die Birnen sind gegessen. Die Sonne hat gegen den Schatten gewonnen. Daniel ist fertig für heute. Wie viele Fragen hat er gefunden, wie viele mehr Antworten hat er nicht gefunden? Die Möglichkeit, noch mehr Fragen zu suchen und noch weniger Antworten zu finden, ist ihm bewusst. Wenn er sie ergreift, wird er wieder so sitzen, auf seinem Weg, der kein A und kein B kennt. Er ist selbst Anfang und Ende zu jedem Zeitpunkt, in jedem Moment, in dem er ist, nicht war, oder nicht mehr sein wird.

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